Von gut und schlecht gestellten Problemen (Lesetext)
Autoren:
Prof. Urs Kirchgraber und Dr. Daniel Stoffer
Departement Mathematik der ETH Zürich und Zürcher Hochschulinstitut für Schulpädagogik und Fachdidaktik
Stellen Sie sich eine feinen English Cake vor, in den viele Rosinen und kandierte Früchte eingebacken sind. Nun nehmen Sie ein dünnes Röhrchen und stossen es irgendwo in irgend eine Richtung durch den Cake. Von dieser Probe bestimmen Sie die mittlere Dichte (indem Sie ihr Gewicht und ihr Volumen messen und den Quotienten ausrechnen). Geben Sie danach die Probe in den Kuchen zurück, sodass er wieder hergestellt ist. Führen Sie sodann analog viele weitere solche "Probebohrungen" durch, bis der Kuchen kreuz und quer vermessen ist!
Die Frage ist: Kann man aufgrund der Kenntnis der mittleren Dichten von vielen Probebohrungen ermitteln ("rekonstruieren''), wie es im Innern des Kuchens aussieht, das heisst, wo (ungefähr) Rosinen, wo kandidierte Früchte sind, wo Teig ist?
Mit dieser Geschichte versucht S. K. Stein in einem Buch zu erläutern wie eine der wichtigsten modernen medizinischen Diagnosetechniken im Prinzip funktioniert: Die Computertomografie (CT).
Statt ein Kuchen wird ein Stück Gewebe untersucht. Anstelle der Probebohrungen mit dem Röhrchen treten Röntgenstrahlen, die an vielen Orten und in viele Richtungen durch das Gewebe hindurch geschickt werden und man misst wie stark sie dabei jeweils abgeschwächt werden.
Die Computertomografie ist ein Beispiel, wie man aus einer Wirkung (der Abschwächung von Röntgenstrahlen beim Durchgang durch Gewebe) auf die Ursache (die Dichteverteilung im Gewebe) zurück schliessen will. Es handelt sich dabei um ein so genannt (moderat) schlecht gestelltes Problem.
Um aus einer Wirkung die Ursache bestimmen zu können, muss der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang umgekehrt werden. Schlecht gestellt bedeutet, dass der Wirkungs-Ursache-Zusammenhang von der Art ist, dass schon geringfügige Veränderungen der Wirkung bedeutende Änderungen der Ursache hervorrufen.
Das wäre nicht weiter schlimm, wenn man die Wirkung genau bestimmen könnte. In der Praxis ist man aber auf Messungen angewiesen. Und Messungen sind grundsätzlich mit (Mess-)Fehlern behaftet.
Der russische Mathematiker A. N. Tikhonov (1906-1993) hat eine Idee entwickelt, wie schlecht gestellte Probleme durch etwas weniger schlecht gestellte Probleme ersetzt werden können, sodass sich (kleine) Messfehler weniger fatal auswirken. Seine Ideen haben grossen praktischen Nutzen: Sie ermöglichen es, dass gewisse Probleme ohne extrem genaue (lies: extrem kostspielige) Messungen gelöst werden können, andere sind überhaupt nur dank Tikhonovs Methode lösbar, weil die ansonsten notwendige Messtechnik (noch?) gar nicht zu Verfügung steht.
Oft steht man vor der Aufgabe, eine Grösse bestimmen zu müssen, die einer direkten Messung nicht zugänglich ist. Zum Beispiel der Radius der Erde oder ihre Masse. In einer solchen Situation muss man ein indirektes Vorgehen wählen: Man benutzt einen Effekt, durch den sich die interessierende Grösse manifestiert.
Die Leserinnen und Leser lernen dieses Vorgehen an einigen Beispielen kennen. Sie befassen sich mit der dabei auftretenden charakteristischen mathematischen Schwierigkeit (der sogenannten „Schlechtgestelltheit“) und sie lernen eine Idee von A. N. Thikonov kennen, die die Schwierigkeit zwar nicht gerade behebt, aber ihre Auswirkungen mildert. Sie begegnen dabei einer wichtigen und aktuellen Anwendung der Mathematik.
Die Abschnitte 1 – 3 erfordern keine grossen Vorkenntnisse. Etwas Vertrautheit mit Variablen, Termen und Gleichungen, mit Galileis Formeln für den „Freien Fall“ und mit der Lösungsformel für quadratische Gleichungen ist von Vorteil. An einer Stelle wird überdies der Begriff der Ableitung benutzt. Abschnitt 4 erfordert Kenntnisse in elementare Algebra, speziell die Kenntnis eines Lösungsverfahrens für lineare Gleichungssysteme. Die Kenntnis des Gravitationsgesetzes von Newton ist vorteilhaft. Abschnitt 5 stellt bedeutend höhere mathematische Ansprüche und richtet sich an Lehrpersonen und leistungsstarke und ambitionierte Schülerinnen und Schüler: Vorausgesetzt werden Kenntnisse in ebener Vektorrechnung bis hin zum Skalarprodukt. In den ersten beiden Unterabschnitten werden in möglichst elementarer Weise Elemente der linearen Algebra bis hin zur Eigenwerttheorie in 2 Dimensionen erarbeitet und dann im dritten Unterabschnitt zur mathematischen Be-gründung des Tikhonov-Verfahrens eingesetzt.