Kooperation Lehr-Lern-Forschung und Neurowissenschaften

Beispiele für die Kooperation zwischen Neurowissenschaften und psychologischer Lehr- und Lernforschung

Um die Bedeutung der Neurowissenschaften für die psychologische Forschung zum menschlichen Lernen zu veranschaulichen, werden im Folgenden sechs exemplarische Fälle der Kooperation zwischen beiden Disziplinen dargestellt:

Neurowissenschaftliche Erklärungen für entwicklungsspezifische kognitive Defizite

Neurowissenschaftliche Untersuchungen können Erklärungen für entwicklungsspezifische kognitive Defizite liefern, die auf kognitionswissenschaftlicher Ebene bereits bekannt und untersucht sind. Dies trifft zum Beispiel auf die Studie von Judy DeLoache (2004) zu, in der die mangelnde Fähigkeit von 18 bis 30 Monate alten Kleinkindern, verkleinerte Modelle von Gegenständen wie Stühlen, Rutschen oder Autos als verkleinerte Modelle zu erkennen (und entsprechend zu handeln), in Beziehung gesetzt wird zu der neurowissenschaftlichen Einsicht, dass visuelle Informationen im menschlichen Gehirn in zwei verschiedenen Systemen, nämlich im ventralen und im dorsalen System, verarbeitet werden, die in diesem Entwicklungsstadium noch nicht ausreichend miteinander verbunden sind.

Neurowissenschaftliche Erklärungen für kognitive Leistungsstörungen

Neurowissenschaftliche Untersuchungen können zur Erklärung kognitiver Leistungsstörungen beitragen. Ein Beispiel ist die Erklärung der Lese- und Rechtschreibschwäche (Dyslexie). Die meisten Kinder mit Dyslexie haben eine verminderte phonologische Bewusstheit. Das bedeutet, sie haben Schwierigkeiten, zusammengesetzte Sprachlaute in Wörtern zu erkennen und zu erzeugen. Kinder mit solchen phonologischen Defiziten zeichnen sich zudem durch deutlich geringere neuronale Aktivitäten im temporal-parietalen Bereich aus, wenn sie zum Beispiel mit Aufgaben beschäftigt sind, bei denen es darum geht zu entscheiden, ob sich bestimmte Silben reimen (Simos et al. 2002). Da die Aktivierung in dieser Hirnregion mit besserer Lesefähigkeit zunimmt, lässt sich Dyslexie also mit einer verminderten Hirntätigkeit in diesem Bereich erklären (Shaywitz et al. 2002).
Außerdem ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass neurowissenschaftliche Untersuchungen dadurch für die psychologische Lehr- und Lernforschung Bedeutung gewinnen können, dass sie uns Hinweise auf die Art der neuronalen Ursachen kognitiver Leistungsstörungen geben. Zum Beispiel hat sich gezeigt, dass Dyslexie nicht auf einer Fehlentwicklung des phonologischen Systems, sondern auf einer verlangsamten Entwicklung dieses Systems beruht (Goswami 2004). Da es denkbar ist, dass man auf verlangsamte Entwicklungen mit anderen Trainingsmaßnahmen als auf Fehlentwicklungen reagiert, lassen sich aus solchen Einsichten möglicherweise auch praktische Konsequenzen für die Beseitigung von Leistungsstörungen ableiten.

Verschiedene Ursachen kognitiver Leistungsstörungen

Kognitive Leistungsstörungen können mehrere neuronale Ursachen haben. Während sich also in solchen Fällen auf der Verhaltensebene keine Unterschiede feststellen lassen, können im Zuge neurowissenschaftlicher Untersuchungen bei verschiedenen Personen unterschiedliche Ursachen dieser Störung identifiziert werden. Dies trifft zum Beispiel auf die Lese- und Rechtschreibschwäche zu, der sowohl Störungen im visuellen System als auch Störungen im auditiven System zugrunde liegen können. Entsprechend diesen Unterschieden müssen also verschiedene Trainingsmaßnahmen ergriffen werden, um die kognitive Störung zu beseitigen. Auf diese Weise können neurowissenschaftliche Untersuchungen praktische Konsequenzen für Trainings- bzw. Unterrichtsmaßnahmen haben. Dabei muss allerdings einschränkend hervorgehoben werden, dass sie noch nichts über die inhaltliche Beschaffenheit dieser Maßnahmen aussagen. In erster Linie erfahren wir durch solche Untersuchungen nämlich nur, dass wir verschiedene Trainingsmaßnahmen ergreifen müssen, um die kognitiven Störungen zu beseitigen.

Frühzeitige Diagnose kognitiver Entwicklungsstörungen anhand neurowissenschaftlicher Befunde

Es mag im Prinzip möglich sein, anhand neurowissenschaftlicher Befunde kognitive Entwicklungsstörungen frühzeitig zu diagnostizieren, bevor sie sich auf der Verhaltensebene zeigen. Dies setzt voraus, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Auftreten bestimmter Hirnzustände zu einem bestimmten Entwicklungszeitpunkt und dem späteren Auftreten bestimmter Leistungsstörungen gibt. Gegenwärtig lassen jedoch die neurowissenschaftlichen Methoden noch keine zuverlässige Frühdiagnose – zum Beispiel von Sprachstörungen – im Einzelfall zu.

Entscheidungen zwischen konkurrierenden kognitionswissenschaftlichen Erklärungen

Neurowissenschaftliche Befunde können in manchen Fällen herangezogen werden, um zu entscheiden, welcher von zwei konkurrierenden psychologischen Erklärungen der Vorzug gegeben werden soll. Erklärt zum Beispiel Theorie A Dyslexie mit Störungen in der visuellen Wahrnehmung und Theorie B mit Störungen beim Sprachverstehen, dann ist es möglich, durch neurowissenschaftliche Untersuchungen der entsprechenden Hirnareale herauszufinden, welche dieser beiden Erklärungen zutrifft (siehe dazu auch Goswami 2004).

Das Trainieren von Vorläuferfähigkeiten

Neurowissenschaftliche Untersuchungen habe gezeigt, dass bestimmte Hirnareale, die später bei Erwachsenen wichtige Funktionen für das Rechnen übernehmen, bei Kindern besonders aktiviert werden, wenn sie ihre Finger abzählen (Dehaene 1997). Dieser Befund ist vereinbar mit der Annahme, dass es sich beim Rechnen mit Fingern um eine mathematische Vorläuferfähigkeit handelt, deren Förderung sich positiv auf den späteren Kompetenzerwerb auswirkt. Sollte sich diese Prognose in längsschnittlich angelegten Trainingsstudien als zutreffend herausstellen, dann würden sich aus neurowissenschaftlichen Einsichten – in Kombination mit Ergebnissen psychologischer Längsschnittsstudien – Anleitungen für die Unterrichtsgestaltung ergeben.
In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass allein aus dem Befund, dass durch das Abzählen der Finger bei Kindern Hirnareale aktiviert werden, die später im Erwachsenenalter für das Ausführen von Rechenoperationen relevant sind, noch nicht ableiten lässt, dass die späteren Rechenleistungen gezielt durch das Üben des Fingerabzählens in der Kindheit verbessert werden können. Aus der Tatsache, dass man seine Hände beim Essen sowie beim Schreiben benutzt, würde man ja auch nicht schließen, dass Essen eine gezielte Übung für das spätere Schreiben ist. Dass am Zustandekommen zweier Kompetenzen die gleichen physiologischen Grundlagen beteiligt sind, lässt noch keinerlei Schlüsse über Fördermöglichkeiten zu. Bei der Entwicklung der Rechenleistungen kann nämlich angenommen werden, dass diese zudem von einer ganzen Reihe kultureller Faktoren abhängt, die im Zuge der Beschreibung des menschlichen Gehirns überhaupt nicht erfasst werden.

Die sechs dargestellten Fälle machen deutlich, dass neurowissenschaftliche Untersuchungen für die psychologische Lehr- und Lernforschung durchaus von Bedeutung sind, weil sich mit ihnen Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufdecken lassen, die auf der Verhaltensebene nicht beobachtet werden können. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass sich viele der dargestellten Fälle auf die Diagnose und Erklärung von kognitiven Leistungsstörungen beziehen. Von der unbestreitbaren Kompetenz der Neurowissenschaften hinsichtlich der Diagnose und Erklärung pathologischer Fälle darf aber nicht vorschnell darauf geschlossen werden, dass ihr damit die gleichen Kompetenzen auch für die Gestaltung von Lerngelegenheiten im normalen Schulunterricht zukommen.

Literatur:

  • Dehaene, S. (1997). The Number Sense. New York, Cambridge.
  • DeLoache, J. S. et al. (2004). Scale Errors Offer Evidence for a Perception-Action Dissociation Early in Life. Science, 304, 1027 – 1029.
  • Goswami, U. (2004). Neuroscience and education. British Journal of Educational Psychology, 74, 1 – 14.
  • Shaywitz, B. et al. (2002). Disruption of posterior brain systems for reading in children with developmental dyslexia. Biological Psychiatry, 20, 101 – 110.
  • Simos, P. G. et al. (2002). Dyslexia-specific brain activation profile becomes normal following successful remedial training. Neurology, 8, 1203 – 1213.
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